Jesus weint über Jerusalem

Vor einigen Sonntagen wurde uns im Evangelium wieder die Stelle zur Betrachtung vorgelegt, die berichtet, wie Jesus sich auf Seiner Wanderschaft Jerusalem nähert und beim Anblick der Stadt in Tränen ausbricht.
Diese kurze Szene gibt uns einen tiefen Einblick in das Seelenleben Jesu. Sie kann uns helfen, den richtigen Mittelweg zwischen der Notwendigkeit der Anspannung aller unserer Kräfte und dem Vertrauen zu Gott zu finden. Es wäre nicht richtig, nur zu betonen, wie ernst wir die Forderungen Gottes nehmen müssen , aber darüber die Barmherzigkeit Gottes und die Notwendigkeit unseres Vertrauens zu Ihm zu vergessen. Genauso verkehrt wäre es, nur die Barmherzigkeit Gottes zu sehen und dabei den inneren Ansporn zu missen, den die Realisierung der Ernsthaftigkeit unserer Lage mit sich bringt.
Jesus näherte sich also Jerusalem. Als Er die Stadt sah, „weinte Er über sie und sprach: ‚ Wenn doch auch du es erkannt hättest, und zwar an diesem deinem Tage, was dir zum Frieden dient! Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen. Es werden Tage über dich kommen, da deine Feinde dich mit einem Walle umgeben, dich ringsum einschließen und von allen Seiten bedrängen. Sie werden dich samt deinen Kindern in deinen Mauern zu Boden schmettern und keinen Stein in dir auf dem andern lassen, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.‘"
Jerusalem als die Hauptstadt Judas und als der Ort, an dem sich der Tempel, das religiöse Zentrum des Volkes Israel befand, steht hier stellvertretend für das Volk der Juden. Die Juden standen seit Abraham in einem besonderen Verhältnis zu Gott. Sie waren das Auserwählte Volk. Das war eine große Auszeichnung und Ehre. Jede Auszeichnung bringt aber auch die Verpflichtung mit sich, sich ihr würdig zu erweisen. Wer viel von Gott empfangen hat, von dem erwartet Gott auch viel. Gott hat Israel aber nicht nur auserwählt, Er hat es auch die Jahrhunderte hindurch treu begleitet und gepflegt. Er hat es darauf vorbereitet, dass aus Ihm der verheißene Erlöser hervorgeht. Aber immer wieder ist Israel untreu geworden, immer wieder hat es sich von Gott abgewendet. Und obwohl Gott sich immer wieder erbarmt hat, es zu sich zurückgerufen und ihm immer wieder verziehen hat, trotzdem hat Israel dann die Endprüfung nicht bestanden; als der verheißene Erlöser kam, hat es ihn nicht angenommen. Wenn Jesus im Gleichnis die Winzer des Weinbergs beim Anblick des Sohnes des Eigentümers sagen lässt: „Das ist der Erbe. Auf, lasst uns ihn töten" (Mk 12,7), dann sagt er damit sogar, dass die Juden Jesus als Erlöser erkannt aber trotzdem bewusst zurückgewiesen haben. Und auch der Pharisäer und jüdische Ratsherr Nikodemus gibt bei seinem nächtlichen Treffen mit Jesus zumindest zu, dass er und seine Leute wissen, dass Er ein Lehrer ist, der von Gott gekommen ist (vgl. Jo 3,2).
Jesus sagt also: „Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen". Das heißt, dass Jerusalem es nicht mehr erkennen kann – was ihm zum Frieden dient. Das zeigt uns: es kann offenbar eine Stunde kommen – wenn der Mensch sich lang genug wider besseres Wissen den Eingebungen Gottes widersetzt -, zu der sich Gott zurückzieht. Das lässt uns aufmerken und realisieren, wie wichtig es ist, dass wir alle Kräfte aufbieten, um mit den Gnadenhilfen Gottes mitzuwirken. Das Gebot, das laut Jesus alle Gebote in sich enthält, sagt ja nebenbei nicht umsonst, wir sollen den Herrn, unsern Gott, lieben aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und mit aller unserer Kraft (vgl. Mt. 22, 37).
Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, wie sehr Jesus darüber trauert, dass es so gekommen ist. Es ist Ihm nicht gleichgültig. Und Er würde alles tun und hat alles getan, um diesen Zustand zu vermeiden. Aber Gott hat den Menschen die Freiheit gegeben, und vor der macht sogar Er Halt. Aber solange wir von unserer Seite her keine Hindernisse in den Weg legen, wird Gott alles tun, dass es nicht so weit kommt. Wie sehr zeigen uns die Tränen Jesu, dass Gott unser Heil will; dass Ihm daran gelegen ist, dass Seine Erlösung auch für uns persönlich zu ihrer Erfüllung kommt. Bei allem Ernst der Nachfolge Christi sollen wir also nicht verzagen, sondern mit Zuversicht in die Zukunft blicken. Gott gibt uns alles, was wir auf unserem Weg brauchen, und wird alles in Seiner Macht tun, um uns zu helfen.
Einen sehr ähnlichen Gedanken drückt auch die Epistel desselben Sonntags aus (1 Kor. 10,6-13). Der hl. Apostel Paulus ermahnt die Gläubigen in Korinth hier zunächst, dass sie nicht lüstern nach dem Bösen sein sollen, dass sie keine Götzendiener werden, dass sie nicht Unzucht treiben sollen. Dass sie nicht Gott versuchen oder gegen Ihn murren sollen. Denn die Israeliten, die solches getan haben, hat die gerechte Strafe eingeholt. Dies geschah aber vorbildlich. Es wurde für uns zur Warnung niedergeschrieben, wie er sagt. Wir sollen uns also hüten vor dem Bösen und wissen, dass Gott Seiner nicht spotten lässt.
Aber auf der anderen Seite sagt Paulus im Anschluss: „Möge keine Versuchung über euch kommen, welche die menschlichen Kräfte übersteigt. Gott ist getreu; Er wird euch nicht über eure Kräfte versucht werden lassen, sondern bei der Versuchung auch den guten Ausgang geben, so dass ihr bestehen könnt" (1 Kor 10,13). Wir sehen also wieder. Wir müssen die Gebote Gottes ernst nehmen und wie der Apostel sagt, wenn wir stehen, zusehen, dass wir nicht fallen. Aber auf der anderen Seite dürfen wir doch darauf vertrauen, dass Gott auf unserer Seite steht; dass Er keine Versuchung über uns kommen lassen wird, die unsere Kräfte übersteigt und dass Er uns die nötige Kraft schicken wird, siegreich aus den Versuchungen hervorzugehen.

P. Johannes Heyne

 

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